Meine Diagnose

 

Es war im Frühjahr 1998. Ich saß in meinem Büro und merkte, dass ich schon wieder so verschwommen sah. Diese Symptome hatte ich bereits des öfteren gehabt. Nach ein paarmal des Auftretens begab ich mich in Behandlung. Mein Hausarzt konnte so nichts finden. Der Augenarzt fand auch nichts und meinte, ich solle doch auch mal meinen Blutdruck untersuchen lassen. Aber mein Hausarzt fand einen ganz normalen Blutdruck vor.

Nun sah ich wieder so unscharf, verschwommen. Eigentlich wollte ich in die Metro und für den Kindergarten einkaufen.

Meine Stellvertretung und ich erstellten gerade die Einkaufsliste.

Irgendwie hatte ich das Gefühl, jetzt sollte ich doch mal der Sache auf den Grund fühlen. Ich bekam sofort einen Termin bei meinem Hausarzt, jedoch mein Blutdruck war normal. Dann rief ich in der Augenarztpraxis an und auch hier sollte ich sofort kommen.

Mein Augenarzt untersuchte mich gründlich, ja er zog sogar seinen Kollegen hinzu. Dieser meinte: „Was ist, wenn der Arzt und der Patient nichts sieht?“ Meine Antwort kam prompt: „Dann ist Nacht !“ „Nein“, meinte der gute Mann, „dann ist es der Sehnerv!“

Ich hatte eine Sehnerventzündung. Ich bekam nun Cortison und wurde erst mal krankgeschrieben.

Da war nichts mehr, von wegen in die Metro fahren. ... und krankgeschrieben, so was!

Nach der ersten Cortisongabe in Tablettenform wusste ich auch warum. Ich war fit wie ein Turnschuh und machte nun die Nacht auch zum Tage. Das Auge sprach sofort an auf die Therapie und nach dem Ausschleichen des Medikamentes war die Sache für mich gegessen. Ruhe.......

 

Am 16. März 2001 fuhr ich übers Wochenende zu Freunden. An diesem Samstag besuchten wir ein großes Möbelhaus. Auf dem Weg vom Parkplatz ins Möbelhaus sah ich etwas verschwommen. Im Möbelhaus probierte ich mit allen Tricks herauszufinden, wann und mit welchem Auge ich besonders verschwommen sah. Irgendwie war es wieder das rechte Auge, was nicht so wollte wie es sollte. Auch ging das Verschwommensehen diesmal nicht weg, so wie vor drei Jahren.

Nach langen Überlegungen beschloss ich, schon heute, am Samstag nach Hause zu fahren, bevor es schlimmer werden würde.

Am frühen Abend rief eine Bekannte an. Wir schwätzten einige Zeit und das Gespräch kam auf mein schlechtes Sehen. Sie schimpfte mich richtig zusammen und das Fazit war, sie kam und fuhr mich zum Augenarzt der Notdienst hatte.

Der untersuchte gründlich und fragt mich aus: Ob ich das schon einmal gehabt hätte? Wie das behandelt wurde?.......

Dann sagte er mir, dass der Sehnerv wohl wieder angegriffen wäre. Diesmal wäre es besser, die Behandlung in Form von Cortisoninfusionen im Krankenhaus zu machen und schrieb mir eine Einweisung. Die übergab er mir mit den Worten: „Sie brauchen da heute Nacht nicht hin, es langt, wenn sie sich im Klinikum Ludwigshafen morgen zwischen 10 und 11 Uhr melden.“

Dann standen wir wieder auf der Straße.

 

So was Blödes und ich habe einen Riesenhunger, wo bekommen wir um 22 Uhr noch was Anständiges zu essen? Wir einigten uns auf den Griechen in Speyer.

Der Riesenhunger hatte sich jedoch schon verflüchtigt, als das Essen kam. Ich war viel zu sehr damit beschäftigt, was ich noch alles regeln muss.

Am nächsten Morgen brachte mich meine Bekannte in die Klinik. Dort wurde ich empfangen: „Heute???“ „ Ja, heute!!! Für 5 Tage!!!“

Nach der Voruntersuchung waren es laut Schätzung der Ärzte schon 10 (!) Tage.

Wir fuhren hinauf in den 6. Stock. Auf dem Weg dorthin sagte ich aus Quatsch: „Hoffentlich verdoppelt sich die Aufenthaltsdauer nicht pro Stockwerk.“ Es sollte noch schlimmer kommen.

 

Dort oben angekommen, wurde ich freundlich aufgenommen.

Gleich am Montag gingen die Untersuchungen los. Das erste Mal ins MRT, das erste Mal eine Lumbalpunktion.

Ein Arzt aus der Aufnahme berichtete mir im Vorbeigehen, man hätte was auf dem CT gesehen, dem jetzt nachgegangen würde.

 

Am Nachmittag kam die Cortisontherapie per Infusion. Am Tag danach sah ich noch schlechter. Daraufhin wurde ich wiederum für den nächsten Tag in der Augenklinik zur Untersuchung angemeldet.

Am nächsten Morgen war die Chefarztvisite. Der Chefarzt zeigte mir eine Anzahl von Fingern und wollte mein Zählergebnis wissen.

Ich sagte: „Wie viel Finger sie mir zeigen, weiß ich nicht, aber welche Farbe ihre Strümpfe haben kann ich noch erkennen.“ Ich sah nur noch im unteren Bereich des Gesichtsfeldes.

Am Nachmittag wurde ich in die Augenklinik transportiert und mein rechtes Auge sah nichts mehr....außer Braun.

Blind hieß für mich Braun sehen, nur Braun.

Die Untersuchungen begannen, ich konnte rechts weder Finger, noch Buchstaben, noch sonst irgendwas erkennen.

„Wenn sie den Punkt sehen, dann drücken sie..... Wenn sie den Punkt sehen, dann drücken sie...... Wenn sie den Punkt sehen, dann drücken sie..... Sie müssen drücken, wenn sie den Punkt sehen!!!!!!“

Herrgottnochmal......ich sah doch nichts !!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!

Das rechte Auge war blind. Panik kam bei mir auf. „Hoffentlich erblindet jetzt nicht auch noch mein linkes Auge.....nein, lieber in den Rollstuhl, als blind“.

Damals wusste ich nicht, was ich noch erleben und durchstehen würde.

 

Vom vielen Liegen meldete sich auch mein Ischiasnerv. Er piesackte mich ganz schön.

 

Am zweiten Montag in der Klinik wurde ich zu einem Gespräch unter 4 Augen ins Arztzimmer gerufen.

„Hätten sie was gegen eine Rehamaßnahme direkt im Anschluss an den Klinikaufenthalt?“ „ Nein!“

„Und gegen eine Langzeittherapie mit Interferon?“ „ Wie, habe ich Krebs?“ „Nein, nur eine Sehnerventzündung.“ Ende des Gespäches!!!

 

In der Nacht zum Mittwoch haben die Medikamente gegen die Ischiasschmerzen total versagt. Der Schmerz zog auf dem Oberschenkel bis runter und mein Bein spürte ich trotzdem nicht. Da hat sich bestimmt der Nerv nun ganz eingeklemmt?! Ich bekam noch mehr Tramal, aber eigentlich nützte es nicht so richtig gegen die Schmerzen. Ich war jedoch ziemlich benebelt und meine Freunde, die anriefen, meinten, ich stände unter Drogen....ich hab das nicht so gesehen.

 

Dann kam der zweite Freitag. Ich lag nun schon fast zwei Wochen in der Klinik.

Um ca. 10 Uhr ging die Tür auf. Eine Dame im Rollstuhl kam auf mich zu und sagte:

„Guten Morgen Frau Germann. Sie sind MS-Patientin, man hat ihnen eine Reha verordnet, schau´n wir doch mal, wo wir sie hintun !!!!!!!!!“

Ich schoss aus dem Liegen hoch, saß und sagte: „Nein, ich habe eine Sehnerventzündung und einen bitterbösen Ischias – sonst nichts!!!!!!!!!!“

Genau diese Worte sagte sie und sagte ich, diese Worte haben sich mir eingebrannt.

Die arme Frau wurde ganz bleich, es war die Sozialarbeiterin der Klinik.

Sie hatte eigentlich nur reine MS-Kliniken, außer der Klinik in Bad Orb in Prospekten dabei. Diese Klinik hatte einen neurologischen und einen orthopädischen Bereich. Für diese Klinik entschied ich mich später.

 

Der Blitz hatte bei mir eingeschlagen, meine Gedanken rasten. Ich muss nun sofort mit einem Arzt reden.....ich klingelte. Die Schwester kam angebraust und ich sagte ihr mein Anliegen....

Eine Stunde(!) später kam ein Pfleger, nahm mich mitsamt Bett mit runter in die MRT-Abteilung...“Ach die MS Patientin....“

Da bin ich explodiert: „Jeder weiß hier wohl was ich habe, mich hat man wohl vergessen zu informieren, wer stellt denn solche Diagnosen....grrrrrrrrrr.“

Klar bekamen den ersten Aufstand von mir die Falschen ab.

 

Auch diesmal schaffte ich das MRT des Rückens ohne Beruhigungsmittel. Vielleicht auch deshalb, weil ich auch Entspannungspädagogin bin und mit Stress recht gut umgehen kann.

In der Röhre liegend dachte ich: „Naja, die Wohnung kann ich bestimmt behalten und wenn ich auf den Rollstuhl angewiesen bin, dann gibt es eine Möglichkeit, die Terrassentür umzubauen und eine Rampe zur Terrasse anzulegen. Werde mal mit meinem Vermieter reden. Aber wer macht mir den Garten???????“

 

Um 14 Uhr war ich wieder im Zimmer und meine Gedanken liefen und liefen.

Klar wusste ich, was die Diagnose bedeutete. Meine Cousine hatte MS von der Diagnose mit 19 Jahren bis zu ihrem 31 Lebensjahr, dann war sie nicht mehr. Sie hatte eine ganz agressive Form, sie starb 1968. Da war die Medizin noch nicht soweit. Sie wurde von Dr. Ewers, der schon damals seine Ernährungsweise bei MS veröffentlicht hatte, betreut.

Meine Freundin hat MS schon 15 Jahre, der ging es noch ganz gut. Meine Arbeitskollegin hat zwar nach dem letzten Schub sehr lange gebraucht wieder auf die Füße zu kommen, aber es geht ihr wieder gut.

Das härteste jedoch war, dass meine Freundin Jola, bei denen ich ja an diesem besagten Wochenende war, den Mittwoch nach mir in Kaiserslautern in die Klinik kam und schon den nächsten Tag ihre Diagnose bekam: MS.

Wenn ich es nicht schon besser gewusst hätte, ich hätte meinen können, diese Krankheit ist ansteckend............

 

Nun war es bereits 15.45 Uhr und der Arzt war immer noch nicht da. Da legte ich dauerhaft meinen Finger an die Klingel. Die Schwester kam gewetzt, man hörte die rennenden Schritte deutlich. Sie öffnete die Tür und ich sagte ganz ruhig und bestimmt: „Wenn der Arzt in Ruhe ins Wochenende gehen will, dann sollte er jetzt kommen, ansonsten schreie ich die Klinik das ganze Wochenende zusammen.“

„Ich hole ihn sofort“, sagte sie, machte auf dem Absatz kehrt und es vergingen vielleicht drei Minuten und der mich behandelnde Arzt kam, schickte alle Leute raus und setzte sich auf einen Stuhl am Fußende meines Bettes.

 

Stille !

 

Da dachte ich, Stille kann ich aushalten, Gesprächsführung hab ich auch schon gehabt....abwarten.

 

Irgendwann fragte ich: „Habe ich MS?“ „ Ähem, ja, ähem, wir mussten....“

Ich fragte wieder: „Habe ich MS, ja oder nein?“ „ Ähem, wir haben noch weitere Untersuchungen.....“ Ich unterbrach ihn und begann zuerst ganz ruhig von mir und meinen Gefühlen zu reden, wie es mir hier erging, wie ich mich fühle. „........wann wollten sie mir die Diagnose denn mitteilen? Oder wollten sie bis nach meinem Geburtstag warten, aber hätten die zwei Tage den Braten noch fett gemacht?“ Letzteres schrie ich, dann fiel ich ins Bett zurück und sagte: „Ich will allein sein!“

Der Arzt floh regelrecht.

 

Ich hatte MS !!!! Peng.